Wissenschaftliche Ergebnisse

„Arbeit für den Krieg?
Betriebsärztliches Handeln in der NS-Zeit im Spiegel der Standespresse.“

Dr. Pierre Pfütsch
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart

Deutscher Betriebsärzte-Kongresses 2016 Dresden am 28.10.2016

Lange Zeit war die Erkenntnislage über das Handeln der Betriebsärzte in der NS-Zeit rudimentär. Während andere Fachdisziplinen, allen voran Urologen und Psychiater, ihre Geschichte systematisch aufgearbeitet haben, beschränkten sich Arbeiten in der Arbeitsmedizin auf punktuelle Fragestellungen wie Biographien einzelner Hochschullehrer bzw. Werksärzte oder auf gewerbeärztliche Systeme.

Auf dem letzten Betriebsärztekongress in Dresden nun berichtete der Medizinhistoriker Dr. phil. Pierre Pfütsch von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart seine ersten Forschungsergebnisse über die gesamte Breite der betriebsärztlichen Tätigkeit. Unter obigem Titel erläuterte er die  Strukturen des damaligen Betriebsarztwesens, wie sie sich aus der Standespresse ableiten lassen.

Die Auswertung zahlreicher Titel offenbarte die besondere Rolle der Betriebsärzte , die ihnen von der Staatsführung im Rahmen der sog. „Gesundheitsführung“ zugedacht war. Ihren Niederschlag fand diese Politik unter anderem darin, dass sich die Zahl der Betriebsärzte zwischen 1939 und 1944 mehr als verachtfachte (von 970 auf 8.000), während im gleichen Zeitraum die Zahl der nicht zur Wehrmacht eingezogenen Ärzte von 54.000 auf 40.000 sank, die der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst von 6.200 auf 5.000.

 


Ein erster wissenschaftlich fundierter Überblick konnte vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung erarbeitet werden. Hier ist der Vortrag, der zu diesem Thema auf der Mitgliederversammlung 2015 des FBHNS e.V. gehalten wurde:


Betriebsärztliches Handeln in der NS‐Zeit: Problemaufriss und Projektskizze

Dr. Sylvelyn Hähner‐Rombach
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart

Einleitung

Die Gesundheitspolitik und die Steigerung der Produktion gehörten zu den Feldern, denen die Nationalsozialisten größte Priorität einräumten. Im betriebsärztlichen Dienst überschnitten sich diese beiden Felder wie sonst nirgends. Allein das genügt schon, um die Notwendigkeit zu begründen, die Geschichte dieser Ärztegruppierung zur Zeit des „Dritten Reichs“ aufzuarbeiten. Während sich medizinische Fakultäten und Kliniken, Berufsverbände anderer Fachrichtungen, wie Pädiatrie, Urologie, Psychiatrie, Kinder‐ und Jugendpsychiatrie, Ophthalmologie, Homöopathie, Innere Medizin sowie die Ärzte und Ärztinnen des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Berufsgruppe bereits gestellt haben, war die Verbandsspitze Deutscher Betriebs‐ und Werksärzte bislang passiv.

Das Beispiel anderer Institutionen – man denke an Träger von Heimen der Nachkriegszeit – hat gezeigt, dass den betreffenden Einrichtungen solche Versäumnisse später einmal, salopp ausgedrückt, „um die Ohren fliegen können“ – je nach dem, wer das Thema zuerst aufgreift.

Umso höher muss die Initiative Ihres „Fördervereins zur Erforschung des betriebsärztlichen Handelns in der NS‐Zeit (FBHNS)“ gewürdigt werden. In den folgenden kurzen Ausführungen werden ein paar Überlegungen vorgestellt, die die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Geschichte Ihrer Berufsgruppe vielleicht noch ein wenig klarer aufzeigen. Dann werden einige NS‐Forschungsprojekte anderer medizinischer Fachdisziplinen vorgestellt, die zeigen, wie man das in Angriff nehmen kann. Zum Schluss soll versucht werden, ein mögliches Forschungsprojekt ganz grob zu skizzieren.

Betriebsärzte im NS‐System

Zahlenmäßige Entwicklung

Wie sich das Betriebsarztwesen zwischen 1939 und 1944 quantitativ entwickelte, zeigt die folgende Tabelle:

Tab. 1: Ärzte im Deutschen Reich zwischen 1939 und 1944

  1939 1940 1942 1943 1944
Ärzte insgesamt 54.389 57.708 66.878 74.500 ca. 73.500
Davon eingezogen 19.178 28.480 ca. 33.000 ca. 33.000
Ärztinnen 4.341 k. A. 7.356 k. A. ca. 9.400
Öffentlicher Gesundheitsdienst 6.286 k. A. 5.769 ca. 5.500 ca. 5.000
Betriebsärzte 971 ca. 2.100 ca. 3.850 ca. 5.000 ca. 8.000

Quelle: Süß, Winfried: Der „Volkskörper“ im Krieg (2003), S. 436.

Wie man sieht, ist die quantitative Entwicklung von knapp tausend im Jahr 1939 auf ca. 8.000 Betriebsärzte fünf Jahre später rasant. Winfried Süß hat festgestellt, dass die Zahl der für die Zivilbevölkerung zur Verfügung stehenden Mediziner und Medizinerinnen während des Krieges auf 60 Prozent des Vorkriegsstands gesunken war (Süß, 2003, S. 183). Wenn man dagegen die Steigerung der Betriebsärzte hält, sieht man, welche Bedeutung der sog. „Leistungsmedizin“ in den Betrieben zugemessen wurde: Ihre Gesamtzahl überstieg 1944 selbst die des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, ihre Steigerungsrate war die höchste der in der Tabelle erfassten Gruppierungen.

Auftrag

Die Aufgabenstellung der Betriebsärzte war – zumal in der Rüstungsproduktion – klar: Die angebliche „Flucht in die Krankheit“ der Erwerbstätigen so weit als möglich zu unterbinden und die Arbeitsfähigkeit möglichst zu erhalten bzw. schnellstmöglich wiederherzustellen. Ziel war es, Produktionseinbußen trotz zunehmender Arbeitsbelastung zu vermeiden. Die individuelle Gesundheit war schon seit 1933 kein bindendes Anliegen mehr. Bei den niedergelassenen Ärzten kann man davon ausgehen, dass ein großer Teil von ihnen – und hier folge ich Winfried Süß – „im Zweifelsfall weiterhin im Sinne ihrer kranken Patienten und nicht im Sinne eines imaginären ‚Volkskörpers‘ und der Vorgaben der NS‐ ‚Gesundheitsführung‘ behandelte“ (Süß, 2003, S. 183). Im Gegensatz dazu war der Anteil jüngerer und dem NS zugewandter Mediziner im öffentlichen Gesundheitsdienst und im Betriebsgesundheitswesen höher. Das öffnete, so Süß weiter, die „Einfallstore für patientenfeindliche Praktiken“. Doch gilt es, diese These von Winfried Süß zu prüfen.

Eine Untersuchung der betriebsärztlichen Praxis kann das Verhältnis von Krieg und Gesundheitspolitik und die Nutzbarmachung der ärztlichen Profession für Kriegs‐ und privatwirtschaftliche Interessen zeigen. Dabei könnte gefragt werden, wie der Krieg durch den Wandel der Rahmenbedingungen das medizinische Handeln oder auch die medikale Kultur veränderte, neue Tätigkeitsfelder generierte, eine Neueinstellung gesundheitspolitischer Prioritäten hervorrief und Denkmustern Vorschub leistete, die den Umgang mit Kranken unter Umständen pervertierten.

Einschlägige NS‐Forschungsprojekte

Medizinische Fakultäten und Kliniken machten Ende der 1980er Jahre den Anfang in der Auseinandersetzung mit der NS‐Geschichte ihrer Einrichtungen. Die neueste Veröffentlichung von 2014 ist die zur Hamburger Universitätsmedizin. Die Ärztekammern auf Länderebene haben noch längst nicht alle mit der Aufarbeitung begonnen. Von regionalen und überregionalen Berufsverbänden sind bislang mit Veröffentlichungen hervorgetreten:

  • als erste medizinische Fachdisziplin die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, und zwar im Jahr 2000 und mit einem neuen Projekt 2012
  • die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft im Jahr 2006
  • die Deutsche Gesellschaft für Urologie 2011
  • die Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2012
  • und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 2015.

Zu den aktuellen, eben erst abgeschlossenen oder begonnenen Forschungsprojekten gehören die Folgenden:

  • Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hatte bereits 2010 das Projekt „Geschichte des Deutschen Vereins für Psychiatrie bzw. der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater in der Zeit des Nationalsozialismus“ ausgeschrieben. Die Laufzeit wurde mit 2 Jahren veranschlagt, die Fördersumme belief sich auf 150.000 Euro.
  • Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (BVÖGD) hat 2014 das Projekt „Der öffentliche Gesundheitsdienst in der Zeit des Nationalsozialismus“ ausgeschrieben. Die Laufzeit beträgt 2 Jahre, die zur Verfügung gestellte Summe: 120.000 Euro.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Kinder‐ und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. hat ebenfalls 2014 ihr Forschungsprojekt zur Gründungsgeschichte in der Zeit des NS und in den Nachkriegsjahren bis 1955 ausgeschrieben. Auch hier ist eine Laufzeit von 2 Jahren vorgesehen, die Fördersumme beträgt 60.000 Euro.
  • Die Landesärztekammer Mecklenburg‐Vorpommern bereitet die Ausschreibung eines Forschungsprojekts zur NS‐Geschichte vor. Genaueres ist noch nicht bekannt.

Forschungsskizze

Forschungsstand

Die Arbeiten zum Betriebsärztewesen im „Dritten Reich“ sind qualitativ und quantitativ sehr überschaubar. Ein Forschungsüberblick aus der Feder von Winfried Süß findet sich in dem von Robert Jütte herausgegebenen Werk „Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung“ von 2011. Neben drei personenbezogenen Studien zu Ernst Wilhelm Baader und Friedrich Georg Christian Bartels aus den Jahren 1998, 2011 und 2013 liegen einige wenige Aufsätze vor, vor allem von Karl‐Heinz Karbe und Hans‐Christoph Seidel sowie eine Monographie von Martin Höfler‐Waag aus dem Jahr 1991. Winfried Süß hat in seinem Werk „Der ‚Volkskörper‘ im Krieg“ von 2003 ein substanzielles Kapitel zur „‘Gesundheitsführung‘ im Betrieb“ verfasst. Ansonsten wird das Betriebsarztwesen in Publikationen zu Medizin und Krieg oder Medizin im Nationalsozialismus immer wieder mehr oder weniger ausführlich gestreift. Was fehlt, ist eine Untersuchung, die tatsächlich das betriebsärztliche Handeln in den Blick nimmt. Dazu kommen verschiedene zeitgenössische Quellen in Betracht.

Quellen

Erstens: Um der tatsächlichen Praxis der Betriebsärzte auf die Spur zu kommen, sind die noch zu eruierenden einschlägigen Überlieferungen von Unternehmensarchiven heranzuziehen. Aus Besuchen von diesen Privatarchiven anlässlich eines anderen Projektes zur Geschichte der Prävention weiß ich, dass sich dazu etwas findet. Eine systematische Suche, die absolut notwendig ist, müsste allerdings von den jeweiligen Werks‐ oder Betriebsärzten und ‐ärztinnen unterstützt werden, da Unternehmensarchive nicht verpflichtet sind, externen Wissenschaftlerinnen Einblick in ihre Unterlagen zu gewähren.

Zweitens: Daneben kommen staatliche Archive in Betracht, an erster Stelle das Bundesarchiv, um das einschlägige Schriftgut auf höchster staatlicher Ebene zu sichten, dann aber auch Landesarchive, um die Umsetzung der Richtlinien etc. zu erfassen, regionalen Problemen nachzugehen usw.

Drittens: Die große Gruppe der gedruckten Quellen, das sind alle einschlägigen Zeitschriften aus dem Untersuchungszeitraum, daneben Forschungsberichte und evtl. Lehrbücher, muss ebenfalls in die Untersuchung einbezogen werden.

Viertens: Zu denken wäre auch an Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen, die entweder selbst in der Kriegszeit tätig waren oder in der Zeit ihre Aus‐ bzw. Weiterbildung durchlaufen haben. Die Aufarbeitung der Geschichte des betriebsärztlichen Handelns in der NS‐Zeit ist nicht nur für die Berufsgruppe von großer Bedeutung, sie würde auch eine spürbare Lücke in der Medizingeschichte und in der Sozial‐ und Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches schließen.